Ingenieurbüro Poll

 

Die Löschkurve

eine Erfolgsgeschichte hat ausgedient

 

Die in der VDE 0845-6-2 (früher VDE 0228 Teil 2) enthaltenen Löschkurven für Erdschlussrestströme bzw. Erdschlussströme beruhen auf Betriebserfahrungen, die man etwa Mitte des vorigen Jahrhunderts aus Netzen mit geringem Verkabelungsgrad gewonnen hatte und die für moderne Netze überholt sind.

 

 

Abgesehen davon, dass die der Norm zugrundeliegende Annahme, wann Doppelerdschlüsse auftreten, in modernen Netzen nicht zutrifft und damit die Einhaltung der Obergrenze für den Erdschlussreststrom irrelevant ist, sind in erdschlusskompensierten Netzen die Werte für das selbsttätige Erlöschen frei brennender Lichtbögen viel höher als angegeben.

 

 1.    Wofür braucht man eine Löschkurve?

Die sogenannte Löschkurve – heute „Obergrenzen für Erdschlussreststrom bzw. Erdschluss-strom“ ­ – steht in der DIN VDE 0845-6-2 (früher DIN VDE 0228-2) „Maßnahmen bei Beeinflussung von Telekommunikationsanlagen durch Starkstromanlagen – Teil 2: Beeinflussung durch Drehstromanlagen“. Wenn bei einem Erdschluss diese Obergrenze nicht überschritten wird, braucht der Doppelerdschluss aufgrund seiner Seltenheit für die induktive Beeinflussung von Fernmeldeanlagen nicht untersucht werden. Das ist eine wesentliche Erleichterung für den Betrieb erdschlusskompensierter Netze. Insofern hat die Löschkurve jahrzehntelang hervorragende Dienste geleistet. Leider ist die Löschkurve mit der Weiterentwicklung der Netze obsolet geworden.

Die DIN VDE 0845-6-2 geht fälschlich davon aus, dass sich Doppelerdschlüssen vermeiden lassen, wenn die Obergrenze für den Erdschlussreststrom eingehalten wird. Die Argumentations-kette für das Auftreten von Doppelerdschlüssen lautet:

Wenn die Obergrenze für Erdschlussreststrom bzw. Erdschlussstrom überschritten wird,  erlöscht im Freileitungsnetz ein frei brennender Erdschlusslichtbogen nicht mehr selbsttätig.

Es entsteht ein stehender Erdschluss.

Daraus entwickelt sich in vielen Fällen ein stromstarker Doppelerdschluss, der Telekommunikationsanlagen unzulässig beeinflussen kann.

Diese Argumentation ist in sich schlüssig, beschreibt aber bei einem heute üblichen Verkabelungsgrad nur noch in extrem selten Fällen den Störungshergang, denn der mit ca. 80% häufigste erste Fehlerort bei Mehrfachfehlern in Mittelspannungsnetzen ist lt. FNN-Störungs-statistik das Kabel. Da ein Erdschluss im Kabel immer ein stehender Erdschluss ist, kann die Ausweitung zum Doppelerdschluss durch Einhaltung der Löschgrenze nicht verhindert werden.

Fazit: Die sogenannte Löschkurve hat heute nichts mehr in der VDE 0845-6-2 verloren, da die Einhaltung dieser Kurve unbedeutend für die Häufigkeit von Doppelerdschlüssen ist.

 

2.    Wie wurde die Löschkurve ermittelt?

Der Begriff „Löschkurve“ ist sehr unglücklich gewählt. Schon sehr früh wurde erkannt, dass die Größe des Erdfehlerstroms nur eine von vielen Einflussgrößen für das Erlöschen von Erdschluss-lichtbögen ist. Wesentlicher als die absolute Höhe des Fehlerstroms ist die Steilheit der wieder-kehrenden Spannung. Die wird bestimmt durch das Verhältnis Erdschlussreststrom zu gesamten kapazitiven Erdschlussstrom des Netzes. Wenn der Erdschlussreststrom nur wenige Prozent des gesamten kapazitiven Erdschlussstroms beträgt, können wesentlich größere Erdschlussrest-ströme als im Bild 1 angegeben zugelassen werden.

Die Löschkurve basiert ursprünglich auf extrapolierte Betriebserfahrungen, die in 110-kV- und 220-kV-Netzen gewonnen wurden (H. Roser, 1948). Nur ein einziger Wert auf den beiden Kurven, nämlich der für erdschlusskompensierte 20-kV-Netze, wurde durch systematische Messungen ermittelt. Da der für 20 kV aus dem Hochspannungsnetz extrapolierte Wert der Betriebser-fahrungen eindeutig zu niedrig war, haben 1963 Erich und Heinze rund 600 Erdschlussversuche in 20-kV-Netzen mit einem Verkabelungsgrad von nur 20% durchgeführt. Um diese Netze an die Grenze der Löschfähigkeit zu bringen, musste der Verstimmungsgrad bis auf 45% Unterkompen-sation und bis auf 31% Überkompensation verändert werden. Bei Versuchen mit hohem ohmschen Stromanteil wurde über einen parallel zur E-Spule geschalteten Wasserwiderstand ein Wirkstrom bis zu 114 A eingestellt. Beide Zustände kommen im normalen Netzbetrieb nicht vor. Heute weiß man, dass die Grenze der Löschfähigkeit nicht wegen der zu großen Erdschluss-restströme, sondern wegen zu großer Verstimmung (= zu große Steilheit der wiederkehrenden Spannung) erreicht wurde. Koch hat 1981 in zahlreichen Versuchen nachgewiesen, dass Erdschlussrestströme von 250 A in 20-kV-Netzen problemlos löschen, wenn der Verstimmungs-grad entsprechend niedrig ist. Für 20-kV-Netze ist der angegebene Grenzwert um mindestens Faktor 4 zu klein! Die Angabe einer Stromobergrenze für den Erdschlussreststrom kann aus physikalischen Gründen die Löschung frei brennender Lichtbögen nicht hinreichend beschreiben.

Fazit: Da Betriebserfahrungen in 110-kV-Netzen (J. Poll, 1984) und systematische Untersuchungen in 20-kV-Netzen (K. H. Koch, 1981) zu völlig anderen Ergebnissen kommen, muss die Löschkurve dringend überarbeitet werden.

 

3.    Welche Konsequenzen müssen wir ziehen?

3.1. Bei einer Überarbeitung der DIN VDE 0845-6-2 „Maßnahmen bei Beeinflussung von Telekommunikationsanlagen durch Starkstromanlagen – Teil 2: Beeinflussung durch Drehstromanlagen“ sollten wir uns ehrlich machen und zugeben, dass gehäufte Doppelerd-schlüsse nicht auf zu hohe Restströme, sondern auf mangelnde Wartung zurückzuführen sind. Die Löschkurve sollte auf jeden Fall aus der VDE 0845-6-2 entfernt werden, weil der hier angenommene Störungsablauf in der Praxis heute nahezu nicht mehr vorkommt.

 

3.2. Sind jetzt auch die vielen Veröffentlichungen, Dissertationen, Planungsgrundsätze und andere VDE-Vorschriften, die die Löschkurve als bare Münze genommen haben, Makulatur? Ich glaube nicht! Die Schlussfolgerungen müssen im Einzelfall angepasst werden und können in den seltensten Fällen auf noch löschfähige Erdschlussrestströme basieren. Würde generell 250 A als Erdschlussreststrom in 20-kV-Netzen zugelassen, gäbe es zum Beispiel erhebliche Probleme bei der Auslegung von Erdungsanlagen. Falls neue, höhere Grenzwerte gefunden werden, können manche Restriktionen bei der Netzplanung entfallen.

 

3.3. Für die Auslegung der Netze, insbesondere für die Dimensionierung der Erdungsanlagen wird allerdings die Angabe von „Obergrenzen für Erdschlussreststrom bzw. Erdschlussstrom“ benötigt. Dazu hat man in der Vergangenheit die Werte der sogenannten „Löschkurve“ herangezogen. Hier macht die seit der Novellierung der VDE 0845-6-2 geforderte Berück-sichtigung der Oberschwingungsanteile im Erdschlussreststrom durchaus Sinn. Wenn die „Löschkurve“ hoffentlich eines Tages aus der VDE 0845-6-2 entfernt wird, muss spätestens dann die DIN EN 50552 (VDE 0101-2) eigene Angaben für die „Obergrenzen für Erdschlussreststrom bzw. Erdschlussstrom“ erhalten. Eine gute Gelegenheit die Grenzwerte den heutigen Anforderungen anzupassen.